Im Rahmen des Projekts ‘Geschichtencafé’ wurde die TimeSlip-Methode (Oppikofer, Nielke, & Wilkening, 2015; Wilkening, 2014) an spezielle Bedürfnisse
von Alters- und Pflegeheimen angepasst und um 'Storytelling' ergänzt. Der Grundgedanke der Methode blieb dabei erhalten. Menschen mit Demenz betrachten zusammen mit ihren Angehörigen ein Bild und
beschreiben die Assoziationen, die sie dabei haben.
Angepasst wurden im 'Geschichtencafé' die Modalitäten, wie z.B. die Begegnungsorte und Periodizität und auch die Art, wie das Gesagte dokumentiert wird.
Nämlich in Form einer Geschichte (story) und nicht als Protokoll.
In der von Birgit Gudde und mir vorgenommenen Adaption der Time-Slips-Methode werden die Assoziationen der TeilnehmerInnen in eine Geschichte gegossen. Da Geschichten eine der grundlegendsten
Arten sind, in denen wir kommunizieren, haben sie die Fähigkeit Emotionen zu wecken und Menschen auf einer tiefen Ebene zu berühren. Das ‘Geschichtencafé’ wird damit zu einem gemeinsamen
Erlebnis, das über das Nachlesen oder -hören der Bildgeschichte immer wieder hervorgerufen werden kann.
Das 'Geschichtencafés' kann in jeder Einrichtung stattfinden - natürlich auch mit Menschen ohne Demenz. Mehr Informationen zu Inhalt und Durchführung auf
der Web-Site von Birgit Gudde.
Die 'TimeSlip-Methode'
Die TimeSlip-Methode ist ein kreatives Gruppenangebot für Menschen mit Demenz im mittleren und fortgeschrittenen Stadium, das in den USA entwickelt wurde.
Im Zentrum für Gerontologie (ZfG) Zürich wurde die Methode erstmals in der Schweiz angewendet. Anhand von skurrilen Fotos oder fantasieanregenden Bildern werden die Teilnehmenden zum Erfinden von
Geschichten animiert (Hoster, 2015).
Mit der TimeSlip-Methode soll die Lebensqualität von Menschen mit Demenz verbessert werden. Wie(Oppikofer, 2013, S. 7)ausführt, kann die Lebensqualität von Menschen mit Demenz nur erhalten bleiben, wenn “wir über
deren kognitive Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und Einschränkungen der Leistungsfähigkeit hinwegsehen und uns für den individuellen Ausdruck der Erkrankten sensibilisieren.” Durch
die ‘völlig losgelöste’ Betrachtung von Bildern, der freien Äusserung von Assoziation dazu und deren wertfreie Dokumentation können Menschen mit Demenz sich (wieder) für voll genommen und
akzeptiert fühlen. Angehörigen wird die Möglichkeit eröffnet - ebenfalls ‘völlig losgelöst’ von (vergessenen) Erlebnissen und Erwartungen - neue (positive) Erfahrungen in der Gegenwart zu
machen.
Die Timeslip-Methode, die von Davis Basting Mitte der 90er Jahre in Amerika entwickelt wurde(Scherrer, 2016), ist eine kreative Methode des Geschichtenerfindens ausgehend von einem Bild. Wichtig ist dabei nicht,
was ‘wirklich’ auf dem Bild zu sehen ist, sondern was dem Betrachter dazu in den Sinn kommt. Es geht nicht um Fakten, sondern um Fantasie.
Im Interventionsprojekt ‘Aufgeweckte Kunst-Geschichten’ des Zentrums für Gerontologie Zürich wurde in Kooperation mit Kunstmuseen und Pflegeeinrichtungen
die TimeSlip-Methode angewendet und Menschen mit Demenz anhand mehrdeutiger Bilder zum kreativen Geschichten erfinden animiert(Oppikofer & Wilkening, 2015). Das gesamte Projekt mit 49 Veranstaltungen wurde in einem Zeitraum von 2012 bis 2015
wissenschaftlich begleitet und untersucht.
Gemäss Oppikofer & Wilkening (2015) wird der Prozess durch offene, impulsgebende Fragen der Moderatorin in Gang gebracht. Das Besondere daran ist
einerseits das Gruppensetting – Durchführungsort ist das Museum – und andererseits die Möglichkeit, in den Teilnehmenden einen kreativen Prozess herbeizuführen, ohne dass man deren Biografie zu
kennen braucht.
Die spontanen Äußerungen der Teilnehmer werden während der sogenannten ‘Sessionen’ wortgetreu schriftlich protokolliert und gleichzeitig zu einer
‘Geschichte’ verdichtet. Als externe Gedächtnisstütze werden die Beiträge während der Session immer wieder vorgelesen.
Die Sessionen werden von zwei Personen geleitet. Jemand ist für die Moderation und jemand ist für das Schreiben verantwortlich. Zusätzlich sind freiwillige
Mitarbeitende, sogenannte ‘Echoer’, beteiligt. Eine Session dauert circa zwei Stunden. Zuerst werden die Teilnehmenden von der Moderatorin, der Protokollantin und den freiwilligen Mitarbeitenden,
in einem separaten Raum empfangen. Die Moderatorin begrüsst die Teilnehmer und erklärt den Ablauf der Session. Weiter wird die Geschichte der letzten Session vorgelesen. Danach geht man gemeinsam
zum neuen Bild, vor dem in einem Halbkreis Stühle für die demenziell erkrankten Menschen aufgestellt wurden. Die Angehörigen und Echoer, die die Aussagen der Teilnehmenden wiederholen, wenn die
Teilnehmenden sehr leise sprechen (Scherrer, 2016).
Die Moderatorin stellt offene Fragen zum Bild und wiederholt wortgetreu alle Aussagen der Teilnehmenden. Die Protokollantin schreibt sämtliche Kommentare
ebenfalls wortgetreu auf. Damit stellt die Protokollantin so etwas wie ein externes Gedächtnis dar, aber sie ordnet die Wortmeldungen auch, so dass eine logische Abfolge und eine gewisse
Dramaturgie entsteht. Am Ende einer Session, ungefähr nach 30 Minuten liest die Protokollantin die entstandene Geschichte vor. Danach wird gemeinsam ein Titel für die Geschichte (das Bild)
gesucht. Wenn alle Teilnehmenden mit der Titelwahl einverstanden ist die Session beendet (Scherrer, 2016).
Die Session lässt man im Rahmen eines Apéros oder bei Kaffee und Kuchen ausklingen. Gemäss Scherrer (2016) ist dieser Abschluss vor allem für die
Angehörigen wichtig, für die es eine Gelegenheit ist, sich auszutauschen.
Storytelling
Storytelling bezeichnet die Kunst des Geschichtenerzählens, bei der Inhalte, Ideen oder Botschaften in Form von Geschichten vermittelt werden. Es ist eine universelle Kommunikationsform, die seit
Jahrtausenden in Kultur, Bildung und Unterhaltung eine zentrale Rolle spielt.
Geschichten sind lebendig, einprägsam und überzeugend sein. Sie appellieren an Verstand und Emotionen und bereichern das Lernen und die Gefühle der Menschen. Storytelling ist somit ein
hochwirksames Lehrmittel, da es den Menschen ermöglicht, Dinge auf sinnvolle und relevante Weise zu verstehen und somit besser zu memorisieren. Als kollektiver Akt ermutigt das
Geschichtenerzählen die Menschen, ein breiteres Verständnis der Dinge zu teilen und eine kohärente Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen, die sonst nicht erreicht
werden könnte (Kaye und Jacobson, 1999).
Storytelling ist ein gemeinsamer und alltäglicher Teil des menschlichen Lebens. Geschichtenerzählen taucht früh im Leben auf und ist eine soziale Aktivität, die kulturübergreifend vorkommt.
Geschichten können verschiedene Formen annehmen, wie Mythen, Volksmärchen, Legenden, fiktives, autobiographisches und so weiter. Es wird in vielen Studienbereichen (z. B. Folklore, Soziologie,
Kommunikationswissenschaft, Pflegeforschung und Mensch-Computer-Interaktion) als Haupttreiber menschlicher Kommunikation anerkannt (Fels und Astell, 2011). Fels und Astell haben gezeigt, dass das
Teilen von Erzählungen über gelebte Veranstaltungen und Erfahrungen Gesprächsthemen und Möglichkeiten bietet , sich mit anderen Menschen zu verbinden. Sie haben u.a. untersucht, dass das
Geschichtenerzählen, eine angenehme und engagierte soziale Aktivitätfür Menschen mit Demenz sein kann.
In ihrem Buch 'Menschen mit Demenz durch Kunst und Kreativität aktivieren' zeigen die AutorInnen den Nutzen des Märchenerzählens auf (Kollak [Hrsg.], 2016). Die AutorIinnen berichten, wie Märchen
einen individuellen Zugang zu teils schwer erreichbaren Personen und eine Integration Einzelner in eine Gruppe von PflegeheimbewohnerInnen unterstützen. Es wird beschrieben, dass durch das
Erzählen von Märchen eine Steigerung des allgemeinen Wohnbefindens, der Ausgeglichenheit und Konzentrationsfähigkeit während der Veranstaltungen, ein Zusammenge-
hörigkeitsgefühl in der Gruppe, aktive Beteiligung der Teilnehmer/-innen erreicht werden kann. Sie schliessen daraus, dass das Erzählen von Märchen für Menschen mit Demenz und herausfordernden
einen Gewinn darstellen würde (Kollak [Hrsg.], 2016, S.6).
Geschichtencafé
Im 'Geschichtencafé' werden die Methoden 'TimeSlip' und 'Storytelling' miteinader verknüpft. Birgit Gudde moderiert den Prozess der Bildbetrachtung und ich notiere die Aussagen der
BetrachterInnen. Von Zeit zu Zeit wiederhole ich die bereits gemachten Aussagen. Nach Beendigung der Bildbetrachtung können die TeilnehmerInnen (Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen) Kaffee
und Kuchen geniessen, während ich aus meinen Notizen eine Geschichte entwickle. Die lese ich am Ende des 'Kaffeeplauschs' vor. Bei allem dabei ist Barnaby, ausgebildeter Theratpiehund, der durch
seine Anwesenheit ebenfalls zum Gelingen des 'Geschichtencafés' beiträgt. Nach dem Vorlesen suchen alle gemeinsam einen Titel für die Geschichte.
Im Nachgang zum 'Geschichtencafé' wird die Geschichte mit einem Foto des besprochenen Bildes und den Namen der BetrachterInnen/AutorInnen ergänzt. Ein Ausdruck wird ausgehängt und an die
Teilnehmenden verteilt.
Im 'Geschichtencafé' benutzen wir Storytelling um aus den Aussagen der BetrachterInnen eine strukturierte Erzählung von Ereignissen, die oft mit Emotionen, Charakteren und einer klaren Handlung
(mit Anfang, Mitte und Ende) verbunden sind, zu konstruieren:
Charaktere: Menschen oder Figuren auf dem Bild, mit denen sich die ZuhörerInnen identifizieren können.
Konflikt oder Herausforderung: Ein Problem, das es zu lösen gilt, macht die Geschichte spannend.
Lösung und Botschaft: Die Geschichte endet oft mit einer Erkenntnis oder einer inspirierenden Aussage.
Emotionen: Geschichten zielen darauf ab, Gefühle zu wecken und damit nachhaltige Eindrücke zu hinterlassen.
Wir nutzen Storytelling weil
Geschichten Emotionen ansprechen und dadurch besser im Gedächtnis bleiben,
es hilft, die einzelnen Assoziationen der BetrachterInnen in verständliche und greifbare Inhalte zu verwandeln,
Geschichten spannender sind als reine Fakten, d.h. als die gemachten Aussagen; sie ziehen die ZuhörerInnen in ihren Bann und halten sie länger interessiert, und
Inhalte, die in Geschichten eingebettet sind, besser erinnert werden als isolierte Fakten (der sogenannte Storytelling-Effekt).
'Storytelling' ist eine kraftvolle Methode, die weit über das blosse Erzählen von Geschichten hinausgeht. Es ist ein Werkzeug, um Beziehungen zu stärken (z.B. zwischen Menschen mit Demenz und
ihren Angehörigen) und Erinnerungen zu fördern: an das betrachtete Bild aber auch an das gemeinsame Erleben der Bildbesprechung.
Aus den Assoziationen der BetrachterInnen zum Bild wurde folgende Geschichte mit dem Titel Gelassenheit kreiert:
Es war am Frühlingsfest vor langen Jahren. So lang, dass sie schon gar nicht mehr weiss, wann genau und in welcher Stadt es
war. War es Bern? War es Paris? Schön war es. Verliebt war sie. Und jung. Achtzehn, vielleicht. Heute ist wieder ein Frühlingsfest. Aber heute ist sie nicht unten auf der Strasse. Heute sitzt sie
in ihrem Lehnstuhl und das Treiben ist draussen. Sie hat ihre Gitarre zur Hand genommen. Sanft zupfen ihre Hände eine kleine Weise. Damals hat sie viel gespielt. Geld damit verdient. Mit
klassischer Musik. Mit alten Weisen. Wenn die Berge sich erheben. Oder Schlager. Rote Lippen muss man küssen. Sogar Jazz hat sie manchmal gespielt. Auch damals als es passiert ist. Ganz ohne
Ehering. In ihren Gedanken spielt ihre kleine Tochter heute neben ihr. Geige spielt sie. Und einen Hut trägt sie. Wie alt wäre sie wohl heute? Ach, es ist lange her. Mittlerweile ist ihre Trauer
einer grossen Gelassenheit gewichen. Heute kann sie sich an dem Fest vor ihrem Fenster wieder freuen. An dem Tanzen auf dem Marktplatz, an der Künstlerin, die dort immer malt oder Theater spielt.
Neben ihr liegt ihr Tagebuch. Da hat sie alles hineingeschrieben. Schreibt es immer noch auf. Was geschehen ist vor Jahr und Tag.
Literatur:
Fels DI, Astell AJ. (2011). Storytelling als Modell des Gesprächs für Menschen mit Demenz und Pflegekräften. American Journal of Alzheimer’s Disease & Other Dementias®.
2011;26(7):535-541.
Hoster, A. (2015). Geschichten erfinden als Therapie. Der
Landbote, 8. April, 15. https://www.zfg.uzh.ch/dam/jcr:ffffffff-f8f3-6821-0000-00003d450638/DerLandboteWinterthur080415015.pdf
Kaye, Beverly und Betsy Jacobson (1999). "Wahre Geschichten und große Geschichten: die Macht des organisatorischen Geschichtenerzählens." Training & Entwicklung, Bd. 53, Nr. 3, Mär.
1999, S. 44+. Gale Academic OneFile, link.gale.com/apps/doc/A54260060/AONE?u'anon-83d87cc4&sid-googleScholar&xid'66b3916f
Kollak, Ingrid (2016). Menschen mit Demenz durch Kunst und Kreativität aktivieren. Springer Berlin Heidelberg
Oppikofer, S. (2013). Lebensqualität von Menschen mit einer
Demenzerkrankung (Issue September, pp. 1–10). Universität Zürich.
http://www.google.at/url?url=http://www.bag.admin.ch/themen/gesundheitspolitik/13916/index.html?lang=de&download=NHzLpZeg7t,lnp6I0NTU042l2Z6ln1acy4Zn4Z2qZpnO2Yuq2Z6gpJCLenx9e2ym162epYbg2c_JjKbNoKSn6A--&rct=j&frm=1&q=&esrc=s&sa=U&ei=PfdhVcDREcHcUqHlgIAL&ve
Oppikofer, S., Nielke, S., & Wilkening, K. (Eds.). (2015).
Aufgeweckte Kunst-Geschichten – Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise im Museum. Zürich: Universität Zürich, Zentrum für Gerontologie.
https://www.zfg.uzh.ch/de/publikat/zfg/buecher.html
Oppikofer, S., & Wilkening, K. (2015). «Aufgeweckte
Kunst-Geschichten» – Menschen mit Demenz auf Entdeckungsreise im Museum. Projektbericht. https://www.zfg.uzh.ch/de/projekt/kunst-demenz-2015.html
Scherrer, B. (2016). De chliini Luusbueb ... Kreatives
Geschichtenerfinden nach der TimeSlips-Methode. April.